Der verheerende Orkan Lothar vor 15 JAhren an Weihnachten 1999 über den Schwarzwald. Foto: Meinrad Heck / edition-zeitlupe
Katastrophaler Orkan Weihnachten 1999
Der Schmetterling
und die Sichel
Von Meinrad Heck (Dezember 2009)
Vor fünfzehn Jahren mähte der Orkan Lothar große Teile des Schwarzwaldes nieder. Halb Europa war betroffen. 100 Menschen starben. Der Orkan entstand vor der Küste Kanadas. Kaum ein Meteorologe hatte ihn vorhergesagt Und selbst konservative Politiker begriffen vor 15 Jahren plötzlich, dass die Welt "die Auswirkungen der globalen Klimaveränderung spürt". Eine Spurensuche.
Die Insel knapp 250 Kilometer vor der Nordküste Kanadas ist einer der einsamsten Orte dieses Planeten. Ihre 42 Kilometer Sandküste haben die Form einer Sichel, also wurde sie „Sable Island“, die Sichel-Insel genannt. Heute steht dort eine der wichtigsten Wetterstationen der nördlichen Hemisphäre. Wichtig, weil sich nahe dieser Insel meist das Wetter zusammenbraut, welches Tage später über Europa hereinbricht. Wie an jenem 24. Dezember des Jahres 1999
Vor den Philippinen ist eine Fähre mit 650 Menschen an Bord gesunken. Thailand erlebt eine Kältewelle mit sieben Toten, Algerien ein Erdbeben mit 25 Opfern und der ADAC stimmt die Deutschen an jenem Tag auf eine weiße Weihnacht in den Bergen ein. Weiter unten dürfte es eher nass werden. Zwar klirrt in weiten Teilen Deutschlands noch der Frost, aber die Wetterfrösche sagen auch für Baden-Württemberg über die Feiertage „milde Temperaturen“ und „das klassische Weihnachtstauwetter“ voraus. Sie stützen sich dabei unter anderem auf die Daten der Wetterstation von Sable Island.
Ein Ballon platzt
Dort, 5102 Kilometer weiter westlich steigt von der Sichelinsel am 24. Dezember 1999 um 13 Uhr Mitteleuropäischer Zeit ein Ballon in die Höhe. Die Radiosonde 71600 soll in großen Höhen viele Daten wie Luftdruck, Feuchtigkeit und Windgeschwindigkeit messen. Die Ergebnisse würden in das globale Modell einfließen, mit vielen anderen Parametern ergänzt und zu einer Großwetterlage hochgerechnet werden. Aber die Sonde 71600 versagt. Ihr Ballon platzt und stürzt ab.
Fast zeitgleich, so haben Wissenschaftler später rekonstruiert, braut sich knapp 500 Kilometer südlich von Sable Island jenes Tiefdruckgebiet zusammen, aus dem Lothar geboren wurde. Auf Sable Island starten Techniker eine neue Sonde. Sie steigt exakt 114 Minuten später auf. Ihre Daten werden in das System eingespeist jedoch mit einer falschen Zeitangabe, nämlich der des missglückten Startversuches um 13 Uhr. Tatsächlich meldet sie falsche, nämlich Windgeschwindigkeiten, die knapp 30 Stundenkilometer niedriger sind Das klingt wenig, ist aber viel. Es ist, sagen Meteorologen, „der Flügelschlag eines Schmetterlings“.
Die "metereologische Bombe"
Als Schöpfer der so genannten Chaostheorie, wonach besagter Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könnte, hatte der US-Meteorologe Edward Lorenz 1972 nachgewiesen, warum sich das Wetter niemals exakt vorhersagen lässt. Er hatte seine Computer in zwei Tests mit identischen Modellen gefüttert und nur einen winzigen Parameter irgendwo an der vierten Stelle hinter dem Komma verändert. Heraus kam trotz nahezu identischer Daten als Prognose einmal Sonnenschein und einmal Regen. Er folgerte daraus, dass schon die kleinsten Ursachen wie der sprichwörtliche „Flügelschlag des Schmetterlings“ schwerwiegende Folgen haben könnten. Die falsche Zeitangabe nach dem Neustart der abgestürzten Sonde 71600 am Weihnachtstag 1999 auf Sable Island war eine solche. Tatsächlich war der Energiehaushalt der Atmosphäre weitaus höher gewesen, als vorhergesagt. Über dem Atlantik braute sich in den Mittagsstunden des 24. Dezember 1999 etwas zusammen, das Wissenschaftler später ein Ereignis von „zyklonaler Urgewalt“ oder eine „meteorologische Bombe“ nennen würden: Der Orkan Lothar.
Selbst am 25. Dezember wurde seine Urgewalt noch unterschätzt. Manche Wetterfrösche gingen zwar weiter als andere. Sie prognostizierten immerhin etwas mehr als ein paar Windböen oder weihnachtliches Tauwetter. Manche sprachen schon von „einzelnen Sturmböen“ meinten aber nur die norddeutschen Küstenregionen. Erst am späten Abend des ersten Weihnachtsfeiertages kamen Meldungen von „schweren Sturm- und Orkanböen“. Und erst am 26. Dezember gegen 9 Uhr sagte ein privater Wetterdienst Windgeschwindigkeiten auf dem Bergland von „vereinzelt über 150 km/h“ und „Gefahr für Leib und Leben“ voraus. Es waren noch vier Stunden bis zum gefühlten Weltuntergang in weiten Teilen Baden-Württembergs.
In der Normandie war die meteorologische Bombe bereits explodiert. Dort war das Auge des Orkans um sieben Uhr Ortszeit eingetroffen. Über Paris tobte der Orkan um 8 Uhr morgens mit Windgeschwindigkeiten von 173 Stundenkilometern. Und in Karlsruhe begann zeitgleich das Barometer zu fallen. Rasend schnell. So schnell und so tief wie noch nie zuvor.
Die ersten Toten
Um 13 Uhr schien die Welt unterzugehen. Das Auge des Orkans lag etwa über Frankfurt, aber an seiner Südflanke gab es die heftigsten Auswirkungen. Die Wetterstation maß in Karlsruhe im Flachland noch nie dagewesene Spitzenboen von 151 Stundenkilometern, in Stuttgart wurden noch 144 km/h registriert. Alles was nicht niet und nagelfest gewesen war, wurde weggeblasen – mit einer Geschwindigkeit von bis zu 42 Metern pro Sekunde.
Auf der Autobahn bei Pforzheim mussten Polizeibeamte unter eine Brücke Schutz suchen und hilflos mit ansehen, wie ein Auto unter der Walze umstürzender Bäume begraben wurde. Zwei Menschen starben. „Man will helfen“, sagte ein Polizist später, „und kann nicht“. Im beschaulichen Müllenbach bei Baden-Baden etwa walzte der Orkan Hunderte von Fichten auf die Straße. Darunter begraben ein Kleinwagen mit einer schwerverletzten Frau. Sie wurde wie durch ein Wunder drei Stunden später entdeckt, weil sich ein paar Ungeduldige Gäste entgegen aller Warnungen auf den Heimweg machten und dabei den Wagen fanden. Bei Pforzheim übernachtete ein älteres Ehepaar von umgestürzten Bäumen eingeschlossen im Wald. Der Mann, Diabetiker und auf Medikamente angewiesen, musste von einem Hubschrauber mit der Seilwinde nach oben gezogen und auf einem Notlandeplatz abgesetzt werden.
Hunderte von Waldbauen im Schwarzwald standen vor dem Nichts. Archivfoto: Meinrad Heck / edition-zeitlupe
Im Schwarzwald fällt der Orkan Hunderttausende von Fichten wie Streichhölzer. Er fräst Schneisen der Verwüstung. Hunderte von Waldbauern stehen vor dem Nichts. Der Orkan reißt eine 40.000 Hektar große klaffende Wunde. Kein Baum steht dort mehr. Der Lotharpfad am Schliffkopf im Ortenaukreis lässt heute noch ahnen, wie dort auf den Höhen des Schwarzwalds jene Bombe explodiert ist. Eine zehn Hektar große Fläche, die so belassen wurde, wie Lothar sie hinterlassen hat. Ein Lehrpfad über Stock und Stein, ausdrücklich nicht für Kinderwagen geeignet, aber eine Lehrstunde für die Gewalt der Natur. Auf dem Feldberg haben an jenem 26. Dezember 1999 die Messgeräte bei Windgeschwindigkeiten von 212 Stundenkilometern ihren Geist aufgegeben und versagt.
Fünf Monate später schreibt die Europäische Kommission an „Seine Exzellenz“ den damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer und genehmigt Aufbauhilfen in zweistelliger Millionenhöhe. Die Beamten in Brüssel haben zuvor ausdrücklich festgestellt, dass es keine Wettbewerbsverzerrung und „keine Überkompensation“ geben werde. 40 Millionen Bäume sind seitdem wieder gepflanzt worden. 153 Millionen Euro flossen an betroffene Schwarzwaldbauern. 30 Millionen Kubikmeter Sturmholz wurden in 18 Monaten aufgearbeitet. 15 Waldarbeiter sind dabei gestorben. Lothar hat nach angaben von Versicherungsunternehmen Europaweit einen Schaden von 5,9 Milliarden Euro angerichtet. Baden-Württembergs damaliger Landwirtschaftsminister Peter Hauk bilanzierte: „Wir spüren mit brutaler Härte die Auswirkungen der globalen Klimaveränderung“. Das sagte ein eher konservativer Politiker vor 15 Jahren. Und am Anfang stand der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings.
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