Recherche-Journalismus & Photographie

 

Computer-Simulation der Flugzeugkatastrophe vom Juli 2002 über dem Bodensee.    Grafik: mh

 

 

10. Jahrestag des 1. Juli 2002

 

Chronik einer Katastrophe

 

von Meinrad Heck (Juni 2012)

 

In der Katastrophennacht von Überlingen ging vor zehn Jahren am Himmel über dem Bodensee und am Boden bei der Flugsicherung Skyguide in Zürich alles schief, was nicht hätte schiefgehen dürfen. Die verheerende Kollision einer DHL-Frachtmaschine und einer russischen Tupolew mit 45 Kindern an Bord kostete 71 Menschenleben. Eine Rekonstruktion.

 

1. Juli 2002. Linz, Österreich, kurz vor 23 Uhr Ortszeit:

Kapitän Alexander Gross passiert mit seiner Tupolew der Bashkirian Airlines in 36 000 Fuß Höhe das Funkfeuer Linz. Sein Jet war vor zwei Stunden in Moskau mit Flugziel Barcelona gestartet. An Bord sind 69 Passagiere und Besatzungsmitglieder, darunter 45 Kinder, die sich auf einen Urlaub unter spanischer Sonne freuen. Das Funkfeuer Linz ermöglicht besonders präzise Höhenmessungen. Piloten eichen quasi ihre Instrumente. In Russland werden in der Fliegerei die Höhen in Meter angegeben, in Westeuropa dagegen noch in Fuß (0,305 Meter).

Zürich, Operation Center Flugsicherung Skyguide, 23 Uhr:

Bei der Schweizer Flugsicherung beginnen Wartungsarbeiten am Radarsystem. Deshalb steht das sogenannte STCA (Short Term Conflict Alert) nicht mehr zur Verfügung. STCA ist ein Sicherheitssystem, das Lotsen auf ihrem Schirm mit roten Blinksignalen automatisch vor einem drohenden Konflikt warnt. Ab diesem Zeitpunkt gelten in Zürich laut Vorschrift erhöhte Staffelungskriterien und damit neue Sicherheitsabstände. Flugzeuge, die sich näher als sieben nautische Meilen (13 Kilometer) kommen, müssen zwingend einen Höhenabstand von mindestens 1000 Fuß (305 Meter) haben.

Nur zwei Lotsen und eine Radarassistentin sind in der Nachtschicht. Dazu noch einige Techniker, die die Anlage warten. Kurz darauf wird einer der beiden Lotsen Pause machen und den späteren Unglückslotsen Peter Nielsen alleine zurücklassen. Nielsen muss deshalb gleichzeitig zwei Radarschirme überwachen und übersieht am Ende das vorgegebene Staffelungskriterium.

Karlsruhe-Durlach, gegen 23 Uhr:

Ralph Reinwarth gönnt sich mit seiner Lebensgefährtin ein Gläschen Pinot Grigio auf dem heimischen Balkon. Das edle Tröpfchen ist "genussvoll abgearbeitet", erinnert er sich später, und weil er Tagdienst hat, verabschiedet er sich kurz danach ins Bett. Reinwarth ist Fluglotse und Safety Manager der Deutschen Flugsicherung in Karlsruhe, zuständig unter anderem für Unfall-Untersuchungen. In knapp zwei Stunden werden sie ihn aus dem Bett klingeln, und er wird die bisher schlimmste Nacht seines Lebens vor sich haben.

Startbahn 29, Flughafen Bergamo, Italien, 23:08 Uhr:

Kapitän Paul Philipps (47) setzt beide Triebwerke seiner Boeing 757-200 der DHL auf Startleistung. Vor sechseinhalb Stunden war er in Bahrain gestartet und hatte mit seinem kanadischen Kopiloten Brant Campioni (34) in Italien einen einstündigen Zwischenstopp. Die Maschine hebt mit sieben Tonnen Fracht ab. Sie wird von der Flugsicherung Mailand zunächst nach Süden geleitet und dreht sieben Minuten später nach Norden Richtung Schweiz. Östlich von Lugano erreicht der Jet den eidgenössischen Luftraum.

Karlsruhe, Deutsche Flugsicherung, 23:20:09 Uhr:

Über die telefonische Standleitung ruft ein Lotse seinen Kollegen von Skyguide Zürich. Das Karlsruher "Rhine Radar" erwartet eine Boeing der Fluggesellschaft Easy Jet aus dem Schweizer Luftraum. "Ja, er kommt rüber", sagt Zürich und schickt den Flieger auf die Karlsruher Funkfrequenz 120,93 Megahertz. Noch funktioniert diese lebenswichtige Standleitung zwischen beiden Flugsicherungszentralen. Für genau solche Routine-Abstimmungen ist sie da und für Notfälle. Als die Situation eine Viertelstunde später im Sekundenabstand eskaliert und Rhine Radar verzweifelt versucht, Skyguide zu erreichen, ist und bleibt die Leitung tot.

Operation Center Skyguide, 23:21:50 Uhr:

Die DHL-Boeing aus Italien meldet sich im Schweizer Luftraum und erhält die Freigabe für einen Direktanflug des Funkfeuers Tango südlich von Stuttgart. Knapp fünf Minuten später darf die Frachtmaschine auf 36 000 Fuß (10 980 Mater) steigen. Um 23:29:50 Uhr. hat die Boeing diese Höhe erreicht. 20 Sekunden später meldet sich die Tupolew aus Baschkirien beim selben Lotsen in Zürich. Auch sie fliegt in 36 000 Fuß. Zeitgleich mit der Tupolew meldet sich auf einer anderen Frequenz ein Airbus der deutschen Fluggesellschaft Aero Lloyd, der von Kreta kommt und in Friedrichshafen landen will. Der Lotse Peter Nielsen muss deshalb von einem Arbeitsplatz zum nächsten pendeln. Er kann keine zwei Radarschirme zur selben Zeit im Auge behalten. Die Pause seines Kollegen wird fatale Konsequenzen haben.

Operation Center Skyguide, 23:31:15 Uhr:

Der Schweizer Lotse übergibt einen Großraumjet der Thai Airways auf dem Flug von Paris nach Bangkok routinemäßig an die Flugsicherung München. Er sitzt exakt eine Minute wieder vor dem entscheidenden Bildschirm, der ihm nur Zentimeter von dieser Thailand-Maschine entfernt zwei weitere Radarsymbole zeigt: DHX611, die DHL-Boeing, und BTC2937, die Tupolew aus Baschkirien. Beide fliegen immer noch in derselben Höhe rechtwinklig aufeinander zu, und später ausgewertete Radaraufzeichnungen zeigen, dass sich die Maschinen zu dieser Sekunde, wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehalten würden, um genau 3,33 Kilometer verfehlt hätten.

An Bord der Tupolew, 23:31:36 Uhr:

Für ein paar Momente steigt die Maschine um wenige Meter, bis der Autopilot wieder korrigiert. Nichts Ungewöhnliches, ein kleiner Ruck, möglicherweise verursacht durch eine leichte Turbulenz. Aber die Maschine verliert dadurch für kurze Zeit, wenn auch nur minimal, an Geschwindigkeit. Dadurch sinkt die in den Radaraufzeichnungen vorausberechnete Minimaldistanz zur Boeing am späteren Kollisionspunkt von jenen 3,33 auf knapp 2,9 Kilometer. Noch weitere sechs Mal werden ähnlich harmlose Sprünge registriert. Und mit jeder noch so kleinen Turbulenz schmilzt diese Minimaldistanz unweigerlich zusammen und bringt die beiden Jets näher an den Kollisionspunkt heran. Das Eis wird immer dünner, und Zürich reagiert nicht.

Operation Center Skyguide, 23:33:08 Uhr:

Spätestens jetzt, zwei Minuten und 24 Sekunden vor der Kollision, hätte die Schweizer Flugsicherung eine der beiden Maschinen zu einer Höhenänderung auffordern müssen. Die Jets rasen mit mehr als 900 Stundenkilometer dahin, Sink- oder Steigflüge brauchen bei diesen hohen Geschwindigkeiten eine längere Vorlaufzeit. Aber der Schweizer Lotse beschäftigt sich mit anderen Problemen. Er muss die deutsche Chartermaschine aus Kreta telefonisch in Friedrichshafen anmelden. Er weiß, dass wegen der Wartungsarbeiten an seinem Radarsystem die Haupttelefonleitung abgeschaltet ist. Seine Assistentin versucht, über die Reserveleitung nach Friedrichshafen durchzukommen, und hat keinen Erfolg. Dass auch noch diese Reserve ausfällt, hat der Lotse weder gewusst noch erwartet. "Du, das geht auch nicht", sagt ihm seine Radarassistentin. Die Flugsicherung Skyguide ist ab diesem Moment telefonisch von der Außenwelt quasi abgeschnitten. Und keine der umliegenden Flugsicherungszentren in Deutschland oder Italien wurde über die Wartungsarbeiten informiert.

Rhine Radar, Arbeitsplatz SE/SC2, Upper Area Control, 23:33:24 Uhr:

Alarm in der Flugsicherung Karlsruhe. Zehn Lotsen haben Nachtdienst und überwachen die Upper Area, den oberen Luftraum in Baden-Württemberg. Einer dieser Lotsen erwartet in wenigen Minuten die Richtung Stuttgart fliegende Frachtmaschine der DHL von seinem Züricher Kollegen. Er blickt am Radarschirm über den Tellerrand in den Schweizer Luftraum. 128 Sekunden vor der Kollision beginnt für ihn und seine deutschen Kollegen "ein Horrorfilm". Das STCA, jene automatische Konfliktwarnung, funktioniert in Karlsruhe, es registriert die drohende Katastrophe.

Grüne Radarsymbole der Tupolew, die zu diesem Zeitpunkt hoch über die Innenstadt von Weingarten bei Ravensburg rast, und jenes der Boeing beginnen rot zu blinken. Heute noch geht den Lotsen dieses "Flashing red" nicht mehr aus dem Sinn. Das Radarbild bleibt unverändert kritisch und wird von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher. Aber noch errechnet der Computer, dass beide Maschinen vielleicht aneinander vorbeirasen könnten – im Abstand von jetzt nur noch 1,6 Kilometern. Rhine Radar drückt den Prioritätsknopf, um über die Standleitung – genau jene, die Minuten zuvor noch funktioniert hat – Zürich zu erreichen. Die Verbindung kommt nicht zustande.

Skyguide Zürich, 23:34:03 Uhr:

Während Karlsruhe eine Minute und 29 Sekunden vor der Kollision immer verzweifelter versucht, Kontakt mit Zürich herzustellen, hat der dortige Lotse keine Zeit und keinen Blick für drohende Katastrophe. Er ist auf den deutschen Ferienflieger und sein eigenes Telefonproblem fixiert. "I lost my phone connection to Friedrichshafen", sagt er dem deutschen Piloten und bittet ihn, selbst mit dem Tower in Friedrichshafen Funkkontakt aufzunehmen. 39 Sekunden vergehen mit diesem Gespräch, vielleicht die entscheidenden Momente in der Katastrophennacht. 39 Sekunden lang rasen Boeing und Tupolew in dieser Endphase weiter aufeinander zu, ohne dass der Züricher Lotse sie zu dem Zeitpunkt überhaupt sieht. Denn er sitzt wieder vor dem Radarschirm seines Kollegen, der gerade Pause macht.

An Bord der Tupolew, 23:34:23 Uhr:

Kapitän Alexander Gross nimmt eine Kursänderung vor. Er hatte im Flugplan die Freigabe für einen Direktanflug des Drehfunkfeuers Trasadingen wenige Kilometer nördlich von Zürich. Die Maschine senkt die rechte Flügelspitze zehn Grad nach unten und dreht leicht nach rechts ab. Weil Skyguide nicht reagiert, weiß die Besatzung immer noch nichts von der Gefahr. Die Piloten der Tupolew können nicht einmal ahnen, dass ihre Kursänderung die Lage immer dramatischer verschärft. Auf den Karlsruher Bildschirmen sinkt die vorausberechnete Minimaldistanz zur Boeing ab dieser Sekunde rapide auf nur noch wenige hundert Meter – ein paar Wimpernschläge Flugzeit. Aber noch könnte es "für eine Handbreit Luft" reichen, hoffen die Lotsen der Flugsicherung Karlsruhe.

Rhine Radar Karlsruhe, 23:34:30 Uhr:

Die Nerven liegen blank. Jeder verfügbare Mann "ist mit den Fingern auf den Zürich-Leitungen", erinnern sie sich. Kontaktaufnahmen per Funk in die Schweiz oder gar zu den bedrohten Flugzeugen sind undenkbar. Die Karlsruher können nicht wissen, ob oder wie ihr Züricher Kollege vielleicht reagiert hat. Sie hören dessen Frequenz nicht mit. Dazwischenfunken würde das Chaos am Ende auch nur noch verschlimmern. Für solche Kontakte – in diesem Fall wäre es eine Warnung gewesen – gibt es die telefonische Standleitung und die ist und bleibt tot. Ein Lotse in Karlsruhe hat angesichts der roten Warnhinweise auf seinem Radarschirm das Gefühl, "als wenn du durch eine Panzerglasscheibe schaust und dein eigenes Kind siehst, wie es über die Straße läuft, während ein Auto heranrast. Du kannst schreien, klopfen, kratzen, gegen das Panzerglas treten oder es mit einem Vorschlaghammer versuchen, du siehst die Katastrophe kommen, und du kannst nichts, aber auch gar nichts tun".

Cockpit der DHL-Boeing, 23:34:30 Uhr:

Kopilot Brant Campioni übergibt die Maschine an seinen Kapitän. Er selbst muss auf die Toilette. Die Crew hat ihr Antikollisionswarngerät TCAS womöglich auf die kleinste Reichweite von nur acht nautischen Meilen eingestellt. Noch sieht sie die nahende russische Maschine nicht in ihrem Display. Das wird sich Sekunden später ändern.

Die letzte Minute ...

Noch 50 Sekunden bis zur Kollision:

Im Cockpit der Boeing und der Tupolew warnt die Automatikstimme des bordeigenen Antikollisionssystems TCAS (Traffic Collision Avoidance System): "Traffic, traffic" (Verkehr, Verkehr). In einem kreisrunden Display am Instrumentenbrett beider Maschinen erscheint jeweils ein gelbes Quadrat mit einigen Zusatzinformationen. Das Symbol zeigt den russischen Piloten, dass die Boeing von links kommt, und es zeigt der Frachtmaschine, dass sich die Tupolew von rechts nähert. Die Zahl "0" neben dieser Anzeige weist die Besatzungen darauf hin, dass beide Maschinen auf derselben Höhe fliegen. Der Kopilot der Boeing rast zurück ins Cockpit.

Noch 44 Sekunden:

Erst jetzt erkennt der Züricher Lotse die brandgefährliche Situation und weist die Tupolew mit Hinweis auf den Konfliktverkehr ("I have crossing traffic") an, "schnell" um 1000 Fuß zu sinken. "Expedite descent", sagt er. Genau in dieser Sekunde wird der vorgeschriebene Sicherheitsabstand von 13 Kilometern unterschritten.

Noch 36 Sekunden:

Noch während der Lotse redet, schalten die bordeigenen TCAS-Antikollisionssysteme der Tupolew und der Boeing auf die nächsthöhere Alarmstufe. Das gelbe Quadrat in den Cockpit-Displays färbt sich rot, und die Automatenstimme befiehlt dem russischen Piloten genau das Gegenteil von dem, was der Lotse sagt. Er soll steigen, und die Boeing soll in diesem automatisch koordinierten Ausweichmanöver sinken. Boeing-Kapitän Paul Philipps schaltet seinen Autopiloten aus und folgt dem TCAS-Kommando, Alexander Gross zieht die drei Schubhebel seiner Triebwerke zurück. Die Crew ist verunsichert. Zur selben Zeit zwei gegensätzliche Anweisungen. Alexander Gross hält seine Maschine noch auf 36 000 Fuß und legt sie nach seiner leichten Kursänderung wieder waagrecht. Noch lässt er die Anweisung des Fluglotsen, der von den gegensätzlichen TCAS-Anweisungen nichts wissen kann, weil sie nicht automatisch zum Boden übertragen werden, unbeantwortet.

Noch 32 Sekunden:

Die akustische Kollisionswarnung bei Skyguide funktioniert noch trotz der Wartungsarbeiten. Eine Alarmglocke schrillt durch den riesigen Raum. Sekunden später wiederholt der Lotse sein Sinkkommando an die Tupolew. "Expedite descent", sagt er, schnell sinken. Der russische Navigator wundert sich. Der Cockpit Voice Recorder zeichnet seinen Gesprächsfetzen auf. "Es (das TCAS) sagt steigen." Kapitän Alexander Gross hört nicht auf seinen Navigator. Er drückt die Nase seiner Tupolew nach unten und geht in den Sinkflug.

Noch 22 Sekunden:

Die Tupolew sinkt. Eine Kettenreaktion kommt in Gang. Weil der russische Kapitän auf den Befehl des Lotsen und nicht auf sein TCAS hört, weichen beide Maschinen in dieselbe Richtung aus. Die Automatik der Boeing registriert das und befiehlt, den Sinkflug weiter zu verschärfen – "Increase descent".

Noch 19 Sekunden:

Der Lotse warnt die russische Maschine vor "Verkehr aus Ihrer Zwei-Position" und macht damit einen verhängnisvollen Fehler. Die Crew schaut in diese Richtung, nach rechts vorne. Tatsächlich kommt die Boeing aber von links. Der Cockpit Voice Recorder, der auf einem Endlosband alle Geräusche der jeweils letzten 30 Minuten aufzeichnet, registriert einen Satz des Kapitäns: "Wo ist er", flucht Alexander Gross. "Er ist hier links", sagt sein Navigator.

Noch 13 Sekunden:

Die Boeing-Crew, die den kompletten Funkverkehr mitgehört hat und deshalb wissen muss, dass auch die Tupolew nach unten in ihre Richtung ausweicht, hat ihr eigenes Sinkmanöver noch weiter verschärft. Der kanadische Kopilot meldet dem Lotsen diesen "TCAS-Descent". Erst jetzt weiß der Skyguide-Mann am Boden, das sich am Himmel die Antikollisionsautomatik eingeschaltet hat und mit seinen eigenen Anweisungen konkurriert. Aber er hat den Satzfetzen nicht gehört. Denn exakt zeitgleich funkt wieder der ahnungslose deutsche Ferienflieger, der auf seiner Frequenz diese Tragödie nicht mithören kann, dazwischen, um einen "Positive contact" mit der Tower Friedrichshafen zu melden. Lotse Peter Nielsen sitzt wieder am anderen Radarschirm.

Noch acht Sekunden:

Das TCAS verlangt in der Tupolew, einen ursprünglich angeordneten, aber nicht befolgten Steigflug zu verstärken. "Increase climb." Der misstrauische Navigator insistiert wieder bei seinem Kapitän: "Es sagt steigen." Kapitän Gross vertraut auf den Lotsen und lässt die Maschine weiter sinken.

Noch fünf Sekunden:

Der DHL-Kopilot schreit seinem Captain zu: "Descent hard", steiler Sinkflug.

Noch 3,8 Sekunden:

Die Boeing-Crew sieht in der pechschwarzen Nacht erstmals die heranrasende Tupolew. Der Flugdatenschreiber registriert: Kapitän Paul Philipps will nach unten ausweichen und drückt das Steuerhorn bis zum Anschlag nach vorn.

Noch 1,8 Sekunden:

Die Tupolew-Besatzung sieht die heranrasende Boeing. Alexander Gross will nach oben ausweichen und reißt in einem verzweifelten Versuch sein Steuer nach hinten.

0,1 Sekunden:

Cockpit und Rumpf der Boeing schießen unter dem Bauch der Tupolew durch, ohne die Maschine zu berühren. Einen Wimperschlag später wird ihr eigenes Seitenleitwerk zum Verhängnis.

23:35 Uhr, 31,5 Sekunden:

Diese senkrecht aufragende Heckflosse der Boeing kracht in Höhe des Notaustiegs in die Tupolew und zerschneidet deren Rumpf. Beide Tragflächen der russischen Maschine und das Heckteil mit den drei Triebwerken brechen weg, fangen Feuer und stürzen auf Randbereiche um die Ortschaft Brachenreute. Dutzende von Passagieren werden durch den rapiden Druckabfall innerhalb von Sekundenbruchteilen aus 34 890 Fuß (10 675 Meter) Höhe in die Tiefe geschleudert. Die Außentemperatur beträgt minus 52 Grad. Flugmediziner werden später sagen, die Menschen hätten nichts mehr gespürt.

Nach der Kollision, 23:35:40 Uhr:

Der Flugdatenschreiber der Boeing fällt aus. Er hat in wilden Zacken die ersten acht Sekunden nach der Kollision abgespeichert. Durch die abgerissene Heckflosse verliert die Maschine ihre Hydraulikflüssigkeit und ist, obwohl Rumpf und Tragflächen noch unbeschädigt sind, nicht mehr steuerbar. Sie stürzt ab, dreht sich immer schneller um ihre Längsachse, bis die Fliehkräfte so stark werden, dass kurz vor dem Aufschlag die Triebwerke unter den Tragflächen abreißen. Die Maschine bohrt sich bis zu vier Meter tief in ein Waldstück bei Taisersdorf.

23:35:47 Uhr:

Aufzeichnung des Cockpit-Voice-Recorders der Tupolew: laut anschwellende Windgeräusche ... Beep-Signale ... Schreie ... Stille.

Flugsicherung Karlsruhe, 23:35:47 Uhr:

Die letzte verzweifelte Hoffnung stirbt. 15 Sekunden lang denken die Lotsen, es könnte mit jener Handbreit Luft noch einmal gut gegangen sein, weil ihr Computer bis zuletzt errechnet hatte, dass sich die beiden Jets verfehlen könnten. 15 Sekunden lang fliegen die beiden Maschinen im Radar wieder voneinander weg, weil die Software vorausrechnet und ein nicht aktuelles Bild liefert. Dann verschwinden die Symbole. Wenig später werden sie ihren Safety-Manager Ralph Reinwarth aus dem Bett klingeln. Reinwarth ist so geschockt, dass ihm seine Lebensgefährtin die kurze Fahrt im eigenen Auto verbietet. Sie ruft ein Taxi. Als Reinwarth im Controller-Raum in Karlsruhe eintrifft, sind dort "die Emotionen so dicht, dass sie ein ganzes Fußballstadion zum Heulen gebracht hätten". Stunden später steht der Lotse, der hilflos Augenzeuge am Bildschirm wurde, auf und geht. "Ihr seht mich hier nie wieder", sagt er. Psychologen helfen ihm über den Schock hinweg, Tage danach traut er sich wieder an den Schirm.

Operation Center Skyguide Zürich, 23:36:01 Uhr:

Der Lotse hat den deutschen Ferienflieger endgültig nach Friedrichshafen verabschiedet, kehrt an seinen ersten Radarschirm zurück und ruft noch zweimal die Tupolew. "Bravo Tango Charlie" antwortet nicht mehr. Er greift zum Telefonhörer, drückt die Taste für Karlsruhe, und plötzlich steht die Leitung wieder. Bei Rhine Radar hören sie die Verzweiflung in seiner Stimme. Seine brennende Frage, ob die Tupolew womöglich auf die Karlsruher Frequenz gewechselt hat und ihm deshalb nicht mehr antwortet. Erst als er mit Rhine Radar gesprochen hat, realisiert er die Katastrophe.

Bei Überlingen, 23:37:27 Uhr:

Der Cockpit Voice Recorder der Tupolew stoppt. Der automatische Stimmenrekorder hatte seit dem Zusammenstoß noch eine Minute und 55 Sekunden funktioniert. So lange dauerte der Absturz aus fast 11 000 Meter Höhe. Eine Ewigkeit jenseits aller Vorstellungskraft. Der Rumpf der Tupolew stürzt knapp 1,5 Kilometer nordwestlich von Überlingen auf eine Wiese. 

 

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