
Februar 2012: Der Stuttgarter Schlossgarten wird von der Polizei für das Bahnprojekt Stuttgart 21 geräumt. Im Februar 2013 explodieren die Kosten immer mehr und Verantwortliche bei Bund und Land dachten über einen Ausstieg und mögliche Schadenersatzforderungen nach. (siehe Stuttgarter Zeitung vom 5.2.2013) Im März 2013 plädierte der Bahn-Aufsichtsrat für einen Weiterbau.            Foto: Meinrad Heck
 
 
Kostenexplosion bei Stuttgart 21:
 
Die Ignoranten
 
Von Meinrad Heck (November 2011)
 
Immer mehr  deutet darauf hin, dass die Kosten für Stuttgart 21 nach unten geschönt  wurden. Selbst glasklare Formulierungen in lange geheim gehaltenen  Papieren, in denen sich diese Deutsche Bahn selbst ad absurdum führt,  werden ignoriert. War oder ist das womöglich Betrug? Natürlich nicht,  sagte die Staatsanwaltschaft Ende Oktober 2011. Im Folgemonat votierte bei einem Bürgerentscheid tatsächlich eine Mehrheit gegen einen Ausstieg. Es lief damals wie geplant. 
Das Papier aus dem Innenministerium Baden-Württemberg ist nicht neu, aber es hat's in sich. Diese sechs Seiten eines vertraulichen Vermerks  vom 6. November 2009 sind seit Monaten öffentlich und rauschen durch  den deutschen Blätterwald. Sie werden diskutiert und in ihre Einzelteile  zerlegt. Noch zu Zeiten von Ministerpräsident Stefan Mappus haben die  Ministerialen mit diesem Schreiben ihre eigene schwarz-gelbe Regierung  vor den Praktiken der Deutschen Bahn gewarnt, wenn es darum ging, Kosten  für das Milliardenprojekt so zu schönen, dass die Messlatte von 4,526  Milliarden Euro nicht gerissen wird.
 

Sie haben ihre eigene Regierung darauf hingewiesen (siehe Ausriss), wie sie "unter  höchstem Zeitdruck" Milliardensummen ohne ausreichende Belege hätten  prüfen müssen, wohl wissend, dass sie nicht alles wissen, weil ihnen die  Verantwortlichen der Bahn, wenn überhaupt, nur scheibchenweise  geantwortet hatten.
Es ging in den entscheidenden Monaten des Jahres 2009 beim Abschluss  der legendären Finanzierungsvereinbarung mit jener ebenso legendären  Deckelfinanzierung von maximal 4,526 Milliarden Euro um ein  "Kommunikationsdesaster", das seinerzeit nicht hatte öffentlich werden  dürfen, oder um die Frage einer "arglistigen Täuschung" seitens der  Bahn. Wohlgemerkt eine Frage, aber auch die hatte zur Wahrung des  schönen Scheins in der  Öffentlichkeit nichts verloren. Jetzt ist sie in  der Öffentlichkeit, und sie wurde vor der Volksabstimmung nicht einmal  schöngeredet, sondern schlicht ignoriert, als gäbe es sie nicht.
Das Schweigen 
Seinerzeit hatten sich die Ministerialen die Finger wund und den  Frust von der Seele geschrieben, damit wenigstens ihre Mahnungen  aktenkundig und sie aus dem Schneider waren. Der Ball lag bei der großen  Politik, einst bei Günther Oettinger, später bei Stefan Mappus. Und  diese Regierungschefs schwiegen. Sie wussten, was ihre  Ministerialbürokratie herausgefunden hatte, und sie verdonnerten sie zum  Schweigen.
Dabei waren die Formulierungen in den vertraulichen Vermerken  glasklar gewesen. Die Rede vom angeblich bestgeplanten Projekt  Deutschlands hatte die Bahn den Ministerialen zufolge "selbst ad  absurdum geführt". Wenige Monate nach der Finanzierungsvereinbarung mit  dem Land vom April 2009 war das Projekt urplötzlich und wundersamerweise  eine Milliarde Euro teurer geworden.
Ein paar entscheidende Kostenkalkulationen der Bahn etwa zum  Tunnelbau hatten allerdings das Datum 2008 getragen, weshalb die  Ministerialen messerscharf daraus schlossen, dass "der DB beim Abschluss  des Finanzierungsvertrags bereits bekannt war, dass im Tunnelbau mit  deutlich höheren Kosten zu rechnen ist". War das eine arglistige  Täuschung?
Wo die große Politik in der Folgezeit des schönen Scheins zuliebe  Nachsicht übte, mahnte ihre eigene Bürokratie "in jedem Fall zur  Vorsicht". Denn der mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit zerredete  sogenannte Risikofonds der Bahn, dieser Puffer, der dafür sorgen sollte,  dass die Kosten unter Kontrolle bleiben, war internen  Ministeriumspapieren zufolge schon 2009 "weitgehend ausgereizt" und die  Bahn hätte eigentlich "Kostenexplosionen" erklären müssen.
Frühere Richter hegen Verdacht des Betrugs
Selbst die Ausstiegskosten, die aktuell vor dem Volksentscheid in  schwindelnde Milliardenhöhen hochgeredet werden, waren 2009 schon einmal  thematisiert worden. Seinerzeit machten die mahnenden Stimmen im  Stuttgarter Innenministerium aktenkundig: "Auf den Umstand, dass die  Kostensteigerungen bei der DB wohl bereits vor Unterzeichnung der  Finanzierungsvereinbarung bekannt waren, sollte hingewiesen werden. Im  Falle eines Projektabbruches würde das Land keine Zahlungen leisten,  sondern vielmehr Schadensersatz verlangen."
Das alles rief, weil es seit Monaten öffentlich bekannt ist, Juristen  auf den Plan. Natürlich wiederum nur solche, welche in der Ecke der  üblichen Verdächtigen stehen. Jene Vereinigung "Juristen zu Stuttgart  21" nämlich, in der sich namhafte Advokaten und frühere Richter  außerordentlich kritisch mit Deutschlands bestgeplantem Projekt  auseinandersetzen und es auseinandernehmen.
Sie hegten den Verdacht des "Betruges in einem besonders schweren  Fall", weil die Bahn vor Abschluss jener Finanzierungsvereinbarung eine  Kostensteigerung von einer Milliarde Euro zwar gekannt, aber  verschwiegen und ausdrücklich als "unwahrscheinlich" bezeichnet hatte.  Nichts anderes hatten die mahnenden Stimmen im Innenministerium  aktenkundig gemacht.
Und wieder war Papier geduldig. In dicken Schriftsätzen zeigten die  Juristen Verantwortliche der Bahn bei der Staatsanwaltschaft wegen des  besagten Betrugsverdachts an, und in ebenso dicken Papierstapeln der  Strafverfolger steht, warum an dem Verdacht angeblich nichts dran ist.
Für die Staatsanwaltschaft "keine Täuschung über Tatsachen"
Denn für die Staatsanwaltschaft Stuttgart waren und sind die  vorzeitig bekannten Kostensteigerungen nun einmal "rechtlich nicht  offenbarungspflichtig". Rechtlich, wohlgemerkt. Der Gesetzgeber hat  demnach über solch rechtliche Geschäftspraktiken zu urteilen, nicht über  moralische Defizite. Wenn die Bahn "pauschal" künftige  Kostensteigerungen von einer Milliarde Euro als "unwahrscheinlich"  bezeichnet, obwohl sie sie kennt – und genau das hat sie getan –, ist  das für eine Staatsanwaltschaft eben noch lange "keine Täuschung über  Tatsachen". Denn das Wörtchen "unwahrscheinlich" enthält für die  Stuttgarter Strafverfolger "keinen Tatsachenkern", auf den die  Bahnverantwortlichen festzunageln wären.
Das wiederum, sagen die üblichen Verdächtigen, also die kritischen  Juristen der Gegenseite, sei "ein Freibrief für jeden Architekten oder  Planungsingenieur, durch Vorspiegeln zu geringer Kosten oder durch  Verschweigen ihm bekannter Kostensteigerungen einen Geldgeber zum  Abschluss eines Finanzierungsvertrags zu verleiten". Gesagt, geschrieben  und de facto ignoriert. Kein unabhängiges Gericht kann ohne Anklage  darüber befinden, weil eine Staatsanwaltschaft die Vorwürfe bewertet,  ohne ihnen nachzugehen. Es gibt kein Ermittlungsverfahren.
Ein solch peinliches, vielleicht sogar verheerendes Betrugsverfahren  gegen die Deutsche Bahn und ihr vermeintlich bestgeplantes Projekt in  Deutschland war damit im Oktober 2011 gerade noch rechtzeitig vor der Volksabstimmung  vom Tisch. Die Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung der  Staatsanwaltschaft läuft seit dem 7. November 2011. Und sie läuft und  läuft...
 
Sie auch "Spekulation 21"
 
 

 
 
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