Recherche-Journalismus & Photographie

 

 

 

18 Sekunden im Advent

 

von Meinrad Heck (Oktober 2011)


Die längste Raubserie der deutschen Kriminalgeschichte endete nach 15 Jahren mitten im Weihnachtstrubel. Im Zentrum von Karlsruhe stellten im Dezember 2010 zwei junge Polizisten die sogenannten Gentlemen-Räuber. Der schwerbewaffnete Bankräuber eröffnete sofort das Feuer und starb, von Polizeikugeln getroffen. Seine Frau beging Selbstmord. Mit dem Autor sprachen die beiden Polizisten erstmals über 18 lange Sekunden und einen Schutzengel.


Sie würden wiederkommen. Kein Zweifel. Sie waren immer wiedergekommen. 15 Jahre lang seit ihrem ersten Überfall am 13. April 1995. Zuerst immer zwei Männer, in den letzten Jahren nur noch ein Mann und eine Frau. Immer dieselben drei Gesichter. 20 Banken hatten sie in den folgenden 15 Jahren in Nordbaden und der Südpfalz überfallen und ausgeraubt, manche davon mehrmals. Sie hatten mehr als zwei Millionen Euro erbeutet und mit ihren Waffen Dutzende von Bankangestellten und Kunden in Todesangst versetzt – eine der spektakulärsten Raubserien der deutschen Kriminalgeschichte.

Meist waren sie kurz vor Schalterschluss in die Bank marschiert, hatten in Einzelfällen mehr als 100 000 Euro in ihre Taschen gestopft und sich von einem Angestellten oder einem Kunden dessen Autoschlüssel geben lassen. Dann waren sie davongefahren, hatten den Wagen ein paar Straßen weiter ordentlich geparkt und waren spurlos verschwunden.

Einmal hatten sie die Autoschlüssel per Post zurückgeschickt an die Bank und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Solche Details waren irgendwie in die Öffentlichkeit gesickert, und natürlich war den Massenmedien eine hübsche Schlagzeile für diese vermeintlich so höflichen Ganoven eingefallen: Gentlemen-Räuber wurden sie fortan genannt. Für die Polizei blieben sie in all den Jahren das, was sie waren: bewaffnete Verbrecher.

15 Jahre Fahndung bleiben ohne Ergebnis

Es hatte unzählige Fotos von Überwachungskameras gegeben. Die Räuber hatten sich meist mit Brillen, Perücken und Mützen getarnt und es bis ins Fernsehen geschafft. Sie standen ganz oben auf den Fahndungslisten von Landes- und Bundeskriminalamt. Aber keine noch so detaillierte Beschreibung und keine 50 000 Euro Belohnung hatten auch nur den Hauch einer Spur ergeben. Niemand kannte diese Gesichter. Wo war die Stecknadel im Heuhaufen? Und wo war der Heuhaufen? Wo leben die Bankräuber? In Baden, in der Pfalz, in Deutschland oder irgendwo im Ausland?

Natürlich hatten sich Dutzende von Fahndern in Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe oder der Südpfalz 15 Jahre lang an ihre Fersen geheftet. Die Beamten hatten Profile erstellt und von Fall zu Fall hochgerechnet, wie lange das jeweils geraubte Geld wohl reichen würde. War die Beute sechsstellig, lag zwischen den Überfällen ein ganzes Jahr, war's weniger, waren die Abstände kürzer.

Die Kripo hatte Fotomaterial ausgewertet, mit allen möglichen Tricks diese Perücken, Brillen oder Mützen auf den Überwachungsbildern wegretuschiert und neue Frisuren hingezaubert. Sie hatte versucht, die Verbrecher zu demaskieren, ihnen ihre echten Gesichter zu geben, in der Hoffnung, jemand möge sie erkennen. Anfang Dezember 2010 waren sie mit einem neuen Fahndungsbild an die Öffentlichkeit gegangen.

Der letzte Überfall in einem Stadtteil von Karlsruhe war damals gerade fünf Monate her. Die Beute hatte nicht mal 50 000 Euro betragen. Irgendetwas lag in der Luft. Kein Zweifel. Es würde nicht mehr lange dauern. Das Räuberpaar würde bald wieder in irgendeine Bank stürmen, wie immer irgendwo zwischen Mannheim, Karlsruhe oder der Pfalz, wo Hunderttausende von Einwohnern leben und kein Mensch ein paar hundert Bankfilialen rund um die Uhr würde überwachen können.

Eigentlich ein ruhiger Vorweihnachtstag

Und sie kamen wieder. Wenige Tage nach der neuen Fahndungsmeldung. Der Mann und die Frau. Mitten in eine belebte Großstadt und mitten in den vorweihnachtlichen Trubel. Beide mit einer scharfen Waffe. Einer tschechischen Luger, einer polnischen Tokarev und zwei geladenen Reservemagazinen griffbereit im Gürtel. Damit hätten sie nicht nur ein paar Bankangestellte bedrohen, sondern sich auch ihren Weg freischießen können.

Es ist Freitag, der 10. Dezember 2010, 15.59 Uhr und 57 Sekunden. In drei Sekunden soll die Volksbank am Karlsruher Karlstor schließen. Die beiden Räuber huschen noch durch die Tür. Überwachungskamera Nummer vier schießt ein erstes Bild. Sieben Minuten später, mit mehr als 100 000 Euro Beute in der Tasche, verlassen die beiden Bankräuber die Filiale. Und der Mann wird tatsächlich seine Waffe zücken und auf die zwei jungen Polizisten Anja Friedel und Bernd Schola (Namen von der Redaktion geändert) feuern, die den beiden in die Quere kommen.

"Nicht viel los heute", sagt Bernd Schola zu seinem Gast hinten im Streifenwagen. Da sitzt ein junger Hospitant der Bereitschaftspolizei. Er soll Erfahrung sammeln. Zuschauen, zuhören, in den Polizeialltag hineinriechen. "Na ja, mehr haben wir heute wohl nicht zu bieten." Dieser Freitag scheint ein ruhiger Vorweihnachtstag zu werden. Bevor sie am Nachmittag losgefahren waren, hatten Anja Friedel und Bernd Schola noch im Polizeipräsidium vorbeigeschaut. Kollegen hatten dort für die interne Zeitung ein paar Zeilen geschrieben, wie die beiden Wochen zuvor zufällig einen Rauschgiftdealer geschnappt hatten, weil ihnen bei einer Kontrolle dieser süßliche Haschischduft in die Nase gestiegen war. Sie hatten den richtigen Riecher gehabt. Schöne Geschichte. Die beiden sollten nur mal kurz drüberlesen.

"Stimmen die Fakten?" – "Ja." – "Also gut." Schnell eine Tasse Kaffee. Die Chefin schaut noch kurz vorbei. "Schönen Dienst noch und schöne Weihnachten, falls wir uns vorher nicht mehr sehen", wünscht die Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke den beiden. Sie fahren wieder los mit ihrem Hospitanten auf dem Rücksitz. Anja Friedel und Bernd Schola sind 28 Jahre jung, er ist seit neun Jahren bei der Polizei, sie seit sieben.

Jemanden im Dienst töten? Dann bin ich ein Wrack, denkt der Polizist.

Sie haben die übliche Ausbildung hinter sich. Auch das Training mit der Waffe auf dem Schießstand. Manchmal unter künstlich produziertem Stress. Viel Lärm, krachend laute Musik, Rauch und dann noch die Zielscheibe treffen. Der Puls geht vielleicht schneller. Aber der letzte, der wirklich allerletzte und entscheidende Schritt lässt sich nicht üben. Die Wirklichkeit. Auch nicht eine Situation, die hoffentlich nicht, aber vielleicht doch irgendwann einmal kommt. Was wäre, fragt sich Bernd Schola in jenen Momenten seiner Ausbildung nicht nur einmal, wenn er nicht auf eine Scheibe, sondern auf einen Menschen schießen müsste?

Es gibt Vorschriften dafür. Sie sind bis ins letzte Komma juristisch wasserdicht und glasklar formuliert. Ja, sagt sich der junge Beamte, er würde schießen, wenn es um sein Leben oder um das Leben anderer ginge. Und wenn er feuern, treffen und vielleicht jemanden töten würde? Dann würde er hinterher vermutlich ein Wrack sein, denkt er sich.

Manchmal gehen merkwürdige Gedanken durch den Kopf. "Du", sagt Anja zehn Tage vor jenem Freitag im Streifenwagen zu ihrem Kollegen, "mir fange die Gentlemen-Räuber." – "Ja, ja, klar, machen wir", grinst Bernd Schola zurück. Daran war nichts Besonderes, sagt sie später. Da war kein tieferer Sinn, das war keine Eingebung und keine Vorahnung. Es war einfach nichts von Bedeutung. Nur für ein paar Sekunden so ein blitzartiger Gedanke, der kam, wieder ging und spurlos verschwand.

Nur keine Geiselnahme provozieren

Der sogenannte stille Alarm aus der Volksbank am Karlstor geht an diesem Vorweihnachts-Freitag wenige Sekunden nach 16 Uhr im Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums Karlsruhe ein. Das kann viel bedeuten. Noch weiß keiner, was gerade passiert oder auch nicht passiert. Es könnte ein Fehlalarm sein, vielleicht auch ein Kurzschluss beim Schließen der Tür, vielleicht ein Bankangestellter, der versehentlich den falschen Knopf drückt, was zwar außerordentlich unwahrscheinlich wäre, aber mal passieren kann, und es könnte tatsächlich ein Überfall sein. Die Beamten gehen immer vom Ernstfall aus.

Anja Friedel und Bernd Schola sind mit ihrem Hospitanten im Auto wenige Straßenzüge entfernt, als sie die Alarmmeldung erreicht. Sie sind um 16:04 vor Ort. So still wie der Alarm war, so still und leise fahren sie schleunigst an den Punkt, von dem aus sie die Bank im Blick haben, ohne gesehen zu werden. Kein Blaulicht, kein Martinshorn, mögliche Bankräuber im Gebäude mit Kunden und Angestellten nicht aufscheuchen, um Himmels willen keine Geiselnahme provozieren. Sehr schnell sein, aber still bleiben und so gut wie unsichtbar. Erst mal nur beobachten. Was ist dort los in dieser Bank?

Die beiden jungen Beamten kennen fast jeden Winkel, jede Gasse in ihrem Revier. Am Karlstor schneidet die vierspurige Kriegsstraße die Stadt in zwei Hälften. Es ist Feierabend. Rushhour am Freitagnachmittag. Immer mehr Verkehr. Am Karlstor gibt es einen Italiener, viele Geschäfte, eine Musikschule, mehrstöckige Bürogebäude, den Hochsicherheitstrakt des Bundesgerichtshofs. Es gibt Fußgängerampeln, an denen sich die Menschen stauen, eine Straßenbahnhaltestelle. Dutzende von Passanten laufen kreuz und quer, fahren oder radeln zum Vorweihnachts-Shopping in die Stadt. Die Dämmerung kommt, die Weihnachtsbeleuchtung glitzert. Und es gibt an dieser einen Ampel diese eine Bank. Der Puls der beiden Beamten mag vielleicht schneller gehen, aber noch rast er nicht.

 

 

"Die kontrollieren wir jetzt mal"

"Da kommen Personen raus, teilweise auch schnell", funkt Bernd Schola. Es ist exakt 16:05 Uhr und 15 Sekunden, als Kamera Nummer vier in der Bank diese Szene einfriert. Zuerst geht der unbekannte Mann, dunkle Haare, dicke helle Jacke, dunkle Hose, aus der Bank, dann die Frau, dunkle Mütze, dunkle Jacke, große schwarze Tasche, Jeans und hohe Stiefel. Noch gibt es keine Bestätigung, dass es sich wirklich um einen Banküberfall handelt. Aber Anja Friedel stutzt. Sieht aus, als tragen die beiden Perücken, sagt sie sich, und wieder kommt dieser Blitzgedanke: Gentlemen?

Die beiden Unbekannten gehen über die Ampel in Richtung Bundesgerichtshof. Die Frau macht ein paar schnelle Schritte, läuft ein paar Meter voraus, sie wirkt gehetzt, wird wieder langsamer, wartet auf den unbekannten Mann. Beide überholen einen Passanten, lassen ihn ein paar Meter hinter sich. "Zwei Personen laufen relativ zügig weg", meldet Bernd Schola über Funk, "die kontrollieren wir jetzt mal." Es gibt noch keine Informationen aus der Bank. Er und seine Kollegin wissen immer noch nicht, ob sie Bankräuber oder vielleicht auch harmlose Menschen vor sich haben. Die beiden jungen Beamten sind nur sehr, sehr misstrauisch geworden. Sie fahren ein paar Meter bis zum Bordstein nahe am Zaun des Bundesgerichtshofes, bis sie auf gleicher Höhe mit dem unbekannten Paar sind, steigen aus und gehen auf die beiden zu. Da zieht der unbekannte Mann seine Pistole aus dem Gürtel.

Es mag eine Sekunde oder auch nur Bruchteile später gewesen sein, als auch Bernd Schola seine Pistole zieht. "Schmeiß die Waffe weg", brüllt er den Mann an. Dann gibt es nur noch dieses winzige schwarze Loch, das auf ihn gerichtet ist, und diesen krummen Zeigefinger des Unbekannten am Abzug. Was jetzt kommt, wird 18 Sekunden dauern. So lange braucht Otto Normalbürger vielleicht, bis er sein Auto rückwärts in eine Parklücke fährt oder bis ein Nachrichtensprecher im Fernsehen fünf Bundesliga-Ergebnisse aufsagt. In 18 Sekunden liest ein Mensch vielleicht die paar Zeilen in diesem Absatz. 18 Sekunden. Das ist die Dimension. Mehr Zeit wird nicht bleiben.

Was ist in diesem kleinen schwarzen Loch, vorne an der Mündung der Waffe, mit der auf sie gezielt wird? Vielleicht so ein kleiner Dorn am Ende des Laufs, der ihnen sagen könnte, es sei eine Schreckschusspistole oder ein Spielzeug? Wie viel Zeit haben die 28 Jahre jungen Polizisten Bernd Schola und Anja Friedel (Namen geändert) nach dem Banküberfall an diesem Freitagabend in der Vorweihnachtszeit, um sich zu entscheiden, ob die Waffe in der Hand des unbekannten Mannes echt ist oder nicht? Zwei Sekunden, vielleicht nur eine oder noch weniger? Da ist kein Dorn an der Mündung. Und der Mann hört nicht auf den Befehl "Schmeiß die Waffe weg!". Bernd Schola feuert einen Warnschuss in ein Blumenbeet neben den Mann, der vor ihm steht und immer noch auf ihn zielt.

Vielleicht ein Millisekunde früher oder auch später drückt der Unbekannte ab. Beide Schüsse explodieren in den Ohren so gut wie zeitgleich, als ginge eine Bombe hoch. Der Polizei-Hospitant auf dem Rücksitz geht neben dem Wagen in Deckung und macht als unerfahrener Berufsanfänger exakt das Richtige, nämlich nichts.

Bernd Schola und Anja Friedel hören in den nächsten 18 Sekunden keinen Knall mehr. Nur noch Klicks oder dumpfe Geräusche von weit weit her. Das Gehirn blendet aus. Sie sehen nur noch diesen Zeigefinger des Mannes, der sich krümmt und krümmt, wieder und immer wieder. Und beide schießen zurück. Treffen ihn in die Beine, dann weiter oben. Und der Mann zuckt zusammen, bleibt stehen und hört und hört nicht auf zu schießen. Anja Friedel spürt ein Ziehen, dann einen Stich im rechten Oberschenkel. Sie ist getroffen, kriecht in die offene Beifahrertür ihres Streifenwagens mit dem Rufzeichen Günther 1/162, sie robbt über die Sitze auf die andere Seite in Deckung, greift noch zum Funkgerät und ruft "Schießerei, Schießerei".

31 Schüsse in 18 Sekunden – wie ein Maschinengewehr

Die Kugeln des Bankräubers bohren sich in die Tür einer Musikschule, sie schlagen in die Seite des Streifenwagens, sie treffen ein parkendes Auto, zertrümmern eine Scheibe an der nahen Straßenbahnhaltestelle. Dazwischen laufen und fahren immer panischere Menschen. Manche denken, da werde wohl ein Film gedreht, andere fürchten, es sei ein Terroranschlag auf den Bundesgerichtshof oder ein Amoklauf. Es klingt wie Maschinengewehrfeuer. 31 Schüsse in 18 Sekunden. An der nahen Ampel geben Autofahrer Gas und suchen das Weite. Die Bankräuberin hat ebenfalls ihre Waffe gezogen. Auch sie wird von Polizeikugeln getroffen, sackt auf den Boden, hebt ihre Waffe noch ein einziges Mal, steckt sie in den Mund und drückt ab. Der Mann wird von einem letzten Schuss in die Brust getroffen, fällt, und dann erst hört er auf zu schießen. Minuten später stirbt auch er.

An der Straßenbahnhaltestelle steht zufällig ein Radioreporter. Er verständigt seine Redaktion. Andere twittern die Nachricht in die virtuelle Welt, knipsen mit dem Handy aus Bürohäusern oder schreiben in die Kommentarspalten einer Online-Zeitung. Sekunden nach dem Schusswechsel klingeln die Telefone der Polizei-Pressestelle, und sie werden an diesem 10. Dezember 2010 nicht mehr aufhören zu klingeln. Bernd Schola schnappt sich das Funkgerät. Die Ruhe in seiner Stimme, wie noch Minuten zuvor, als er sagte: "Wir kontrollieren die mal", diese Ruhe und Routine ist wie weggeblasen.

Er hetzt von Wort zu Wort. "Schusswaffengebrauch, beide Personen angeschossen, Kollegin verletzt, brauchen unbedingt DRK." Und zehn Sekunden später: "Sind Gentlemen, würd ich sagen." Der Mann, die Frau, die Statur, die Perücken, die Vorgehensweise, die Waffen. Gewissheit wird es erst Tage später nach einer DNA-Analyse geben. Aber Bernd Schola und Anja Friedel haben recht. Es sind die sogenannten Gentlemen-Räuber, die seit 15 Jahren in Nordbaden und der Südpfalz Banken überfielen und nie gefasst werden konnten.

 

 

Um Haaresbreite auf einen Kollegen geschossen

Eine zweite Streifenwagenbesatzung ist jetzt am Karlstor eingetroffen, kurz danach eine dritte. Und dann kommt da noch plötzlich wie aus dem Nichts ein langhaariger Kerl angerannt mit einer Waffe im Anschlag. Eine neue Bedrohung. Komplize? Gut oder böse? Wie viel Zeit bleibt für eine Entscheidung? Bernd Schola brüllt diesen Kerl im breitesten badischen Dialekt an: "Wer bisch'n du?" Obwohl er die Antwort instinktiv schon kennt. Der Mann sieht zwar nicht aus wie ein Polizist, aber er bewegt sich wie einer. Und seine Pistole ist eindeutig eine Polizeiwaffe. "Kripo", ruft er.

Ein Rauschgiftfahnder, der aussehen soll, als käme er aus der Szene. Einer, der gerade mit Kollegen und rein zufällig einen konspirativen Drogeneinsatz am Karlstor gefahren hatte und zu Hilfe eilen wollte. Noch mal gut gegangen. Um Haaresbreite an der Katastrophe vorbei. Später werden Ermittler sagen, eine einzige falsche Reaktion in diesen Sekunden, in denen das Adrenalin durch die Adern schießt und das eigene Leben in Gefahr ist, nur ein winziger Fehler, und es hätte vielleicht noch einen Toten gegeben.

Es ist noch nicht zu Ende. Da ist noch ein Mann. Vielleicht zehn Meter weg von den beiden Toten. Jener Mann, den die Bankräuber bei ihrer hastigen Flucht aus der Bank überholt hatten, der hinter ihnen lief und sich auf den Boden warf, als die Knallerei begann, die Hände an den Ohren. Nach diesen 18 Sekunden wagt er den Kopf zu heben, und er blickt in den Lauf einer Pistole. Er realisiert nicht, dass ein Polizist vor ihm kniet und ihn in Schach hält. Er sieht nur diese Mündung, und er erkennt hinter der Waffe, wie er später sagen wird, nur "eine Fratze".

Wer ist dieser mysteriöse dritte Mann?

Zufall? Nur ein Passant? Ein Mittäter? Der mysteriöse dritte Mann der sogenannten Gentlemen-Räuber, nach dem heute noch gesucht wird? Einer, der vor der Bank Schmiere stand? Die beiden toten Bankräuber haben Pässe in ihren Taschen. In wenigen Augenblicken wird die Polizei wissen, wer sie waren, und dann wird die Ermittlungsmaschine zu laufen beginnen. Die Bankräuber kamen aus Tschechien, ein seit Jahren verheiratetes Ehepaar aus einem kleinen Nest südlich von Prag. Der Mann hatte Kontakte in den süddeutschen Raum. Südlich von Prag, so wird sich später erweisen, hatten sie ihre Raubzüge nach Deutschland gestartet. Nicht aus der Pfalz oder Baden oder überhaupt Deutschland, nein, aus Tschechien. Und jetzt dieser dritte Mann daneben am Boden, ein paar Meter weg, der nur gebrochen Deutsch spricht, der fleht, er sei völlig unschuldig, habe mit der Sache nichts zu tun und habe Todesangst – wer verdammt noch mal ist dieser Mann?

Der Mann kann bitten und betteln, wie er will. Er wird vorläufig festgenommen. Ein Verdacht ist diesen ersten Minuten nach dem Überfall einfach nicht wegzudiskutieren. Undenkbar, ihn in dieser Situation einfach laufen zu lassen. Aber die Polizisten ahnen nicht, was sie diesem Mann antun, ohne es zu wollen. Noch nicht. Erst eine Stunde später.

Der Mann ist tatsächlich völlig unschuldig. Sein Alibi stimmt. Es war Zufall. Er hatte nicht das Geringste mit den beiden Bankräubern zu tun. Es bleibt nicht der Hauch eines Verdachts. Er kann gehen. Was die Polizisten nicht wissen konnten, war,  welche dramatische Vorgeschichte dieser Mann bereits erlebt hatte. Seine Familie war vor Jahren von dem tödlichen Amoklauf an einer Schule in Erfurt betroffen. Und er dachte an jenem Freitag in Karlsruhe, er sei wieder mitten drin in der Hölle beim Amoklauf eines Verrückten. Eine Pistole vor Augen, ein Polizist, den er trotz Uniform nicht als solchen, sondern als Amokläufer erkennt und nur als jene Fratze wahrnimmt.

"Sie haben mir Todesangst eingejagt"

Es wird noch viele Treffen mit diesem Mann geben. Das Kriseninterventionsteam will sich um ihn bemühen. Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke wird zu erklären versuchen, sie wird sich bei ihm entschuldigen, wieder und immer wieder. Es wird ihm nicht viel helfen. Erst, als sie den traumatisierten Mann in ihrem Büro mit dem jungen Beamten zusammenbringt, der ihn mit seiner Pistole in Schach gehalten hatte, also jener angeblichen Fratze, beginnt sich die Situation ein wenig zu entspannen. Ein wenig. "Sie haben mir Todesangst eingejagt", klagt der Mann. Und der Polizist versteht. Aber "ich habe in dieser Sekunde auch nicht gewusst, ob ich meine Kinder noch mal sehe", sagt der Polizist. Es ist die Ohnmacht, die traumatisiert. Das Gefühl, hilflos und machtlos ausgeliefert zu sein. Nichts mehr tun zu können, keine Kontrolle zu haben. Wie dieser Passant, wie die Bankangestellten oder Kunden.

Anja Friedel wird vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht. Daniela Piche sitzt neben ihr. Die junge Frau ist eine Polizeikollegin, die an jenem Freitag den Schusswechsel gehört hatte. Sie war ein paar hundert Meter entfernt. In einem Geschäft auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für ihre Schwester. Und sie weiß, dass sie da jetzt hinmuss. Sie beruhigt ein paar aufgeregte Menschen, die ihr entgegenrennen. Es sei doch bald Neujahr. Das werden wohl nur ein paar Silvesterböller gewesen sein. Sie ahnt, dass es nicht stimmt.

Daniela Piche gehört zum psychosozialen Betreuungsdienst der Karlsruher Polizei. Was auch immer ein paar hundert Meter weiter passiert ist, sie wird es erfahren und helfen können. Sie weiß, warum das wichtig ist. Sie war vor Jahren im Streifendienst nachts zu einem Einbruch in ein Bürohaus gerufen worden. Sie hatte den Einbrecher gestellt, den Mann bis in die obere Etage auf das Flachdach verfolgt und in Schach halten wollen, bis Verstärkung eintreffen würde. Der Einbrecher hatte sich umgedreht und war in die Tiefe gesprungen. Seitdem gibt es in ihrem Leben ein Geräusch, das ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.

Um Haaresbreite davongekommen

Sie weiß, traumatische Erlebnisse werden zwangsläufig Teil der eigenen Biografie. Sie bleiben es, ob man will oder nicht. "Und genau das musst du lernen, zu akzeptieren. Sie sind und bleiben ein Teil von dir." Anja Friedel sagt im Krankenwagen wieder und immer wieder: "Oh Gott, was hatten wir für einen Schutzengel." Ihre Schusswunde am Oberschenkel wird in der Klinik operiert und verheilt ohne Komplikationen. Die Kugel hatte knapp eine Arterie verfehlt. Eine Woche danach kann sie wieder nach Hause.

Bernd Schola weiß, dass er einen Menschen erschossen hat. Hatte er Kinder? Wer trauert um ihn, fragt er sich. Ein Sohn oder eine Tochter? Warum hat er nicht aufgehört zu schießen? Dieses Schießen musste aufhören, mitten im Weihnachtstrubel am Karlstor mit all den unbeteiligten Menschen. Vorwürfe? Selbstvorwürfe? Fehler gemacht? Vor Jahren in der Ausbildung hatte der junge Mann noch darüber nachgedacht, ob und wann er seine Waffe benützen würde, nämlich dann, wenn das Leben anderer oder sein eigenes in Gefahr wäre. Er hatte befürchtet, ein seelisches Wrack zu sein, wenn jemand dabei zu Tode kommt. Bernd Schola ist kein Wrack. Er weiß, dass er selbst nur um Haaresbreite davongekommen ist.

In der Landespolizeidirektion Karlsruhe gibt es ein Dezernat für Sonderfälle. Dessen Fahnder ermitteln grundsätzlich immer, wenn Polizeibeamte von der Schusswaffe Gebrauch machen. Sie zerlegen noch Freitagnacht diese 18 Sekunden in ihre Bruchteile. Sie rekonstruieren Schusswinkel, vernehmen Zeugen. Sie hören, dass diese Zeugen sagen, die Bankräuber hätten das Feuer eröffnet, die Polizei hätte es erwidert. Sie versuchen herauszubekommen, wer wann wo stand und was getan hat. Und schon in den ersten Stunden war den Ermittlern "glasklar", was an diesem Abend passiert war und warum. Der Warnschuss in das Blumenbeet, die schwer verletzte Polizistin. Der Selbstmord der Bankräuberin. Wozu die zwei geladenen Reservemagazine griffbereit am Gürtel des Bankräubers? Es war in diesen 18 Sekunden um alles oder nichts gegangen.

Es gibt keinen Zweifel, wird die Staatsanwaltschaft Monate später in ihrem Abschlussbericht schreiben. Dass und wie Anja Friedel und Bernd Schola geschossen haben, war nicht nur "gerechtfertigt", sondern aus "Gründen der Notwehr auch geboten".

 

 

Der Schutzengel am Schlüsselbund

Monate danach: im Obergeschoss des Karlsruher Polizeipräsidiums trifft sich ein kleiner Kreis von Beamten mit ihren Vorgesetzten. Anja Friedel und Bernd Schola sind eingeladen, ihr Hospitant, dazu jene Streifenwagenbesatzungen, die ihnen damals zu Hilfe gekommen waren. Die Pressestelle ist dabei, Notärzte, Sanitäter, psychologische Betreuer und Vertreter Stuttgarter Ministerien. Erinnerungen an einen Tag im Dezember.

"Nein", sagt Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke, "ich freue mich nicht, dass zwei Bankräuber tot sind. Ich freue mich nur, dass kein Unbeteiligter zu Schaden kam und meine beiden Kollegen noch leben und gesund sind." Die Pressestelle hat für dieses Treffen am Computer ein Nachrichtenstück jenes Tages zusammengebastelt. Powerpoint. Vier, fünf Minuten lang. Ein paar Fotos, Zeitungsartikel, Schlagzeilen, mit denen manche Journalisten Hollywood gespielt hatten. Showdown am Abend, hieß es auf dem Boulevard, oder es kam die Story von Bonnie und Clyde. Die Pressestelle zeigt den Gästen ein paar Einspieler von "Tagesschau" und "heute-Journal" jenes Abends. Vom Band laufen ein paar Fetzen aus den Funksprüchen. Nur diese zwei Worte von Anja Friedel: "Schießerei, Schießerei." Und danach sagt in dieser Runde keiner mehr ein Wort. Es war, erinnern sich Teilnehmer, einfach nur noch still.

Der Streifenwagen mit dem Rufzeichen Günther 1/162 ist repariert. Die Einschusslöcher sind geflickt, der Wagen in einem anderen Revier wieder im Einsatz. Anja Friedel liegt in den Monaten danach noch etwas am Herzen. Eines Morgens holen sich ahnungslose Beamte im Revier XY wie jeden Tag den Schlüssel von Günther 1/162. Natürlich kennen sie die Geschichte ihrer Kollegen und die Geschichte dieses Autos. Und sie zucken zusammen. Am Schlüsselbund G 1/162 baumelt plötzlich ein kleiner Engel. Anja Friedel hatte ihn im Krankenhaus geschenkt bekommen und heimlich gebracht. "Ein Schutzengel", sagt sie, "ein Schutzengel, wie wir ihn in diesem Auto hatten."

 

 

 

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